Am 23. April 1922 wurde in Nowawes, dem heutigen Potsdam-Babelsberg, die erste weltliche Schule des Landes Brandenburg gegründet. Heute befindet sich in dem Schulgebäude in der Karl-Liebknecht-Straße 29 die Grundschule „Bruno H. Bürgel“. Bis 1933 entstanden sieben weltliche Schulen in Brandenburg, vor allem in Industriezentren. An diesen Schulen wurde statt Religion „Moralunterricht“ (bald Lebenskunde genannt) angeboten. Die weltlichen Schulen waren Orte der Reformpädagogik für unser heutiges modernes Schulwesen. Nach dem Machtantritt der Nationalsozialisten 1933 wurden sie geschlossen.
Weimarer Schulkompromiss
In Deutschland, wie in vielen Ländern Europas, waren nach 1918 politische Parteien an die Macht gelangt, die sich dafür einsetzten, dass höhere Bildung nicht länger Privileg einer kleinen gesellschaftlichen Schicht blieb.
In Berlin wurde am 10. November 1918 Adolf Hoffmann für die USPD als gleichberechtigter Minister neben Konrad Haenisch (SPD) an die Spitze des preußischen Ministeriums für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung berufen. Bis Dezember 1918 verfolgte er einen strikt antiklerikalen Kurs in der Schulpolitik, der auf die Beseitigung aller kirchlichen Privilegien in der Schule zielte. So sollte durch eine Verordnung vom 29. November 1918 die geistliche Ortsschulaufsicht und das Schulgebet abgeschafft, die Befreiung vom Religionsunterricht erlaubt und Religion als Prüfungsfach abgesetzt werden.
Dies löste wütende Proteste und organisierten Widerstand seitens der katholischen und evangelischen Kirche sowie von Lehrerverbänden und Eltern aus. Vielerorts wurden Hirtenbriefe von Kanzeln verlesen und Mitglieder der Kirchen mobilisiert. Daraufhin hob Konrad Haenisch den Religionserlass Ende Dezember 1918 wieder auf, da er einen drohenden Kulturkampf und separatistische Tendenzen befürchtete.
Auch in der Folgezeit kam es in der Weimarer Regierungskoalition zwischen SPD, DDP und Zentrumspartei zu schwerwiegenden schulpolitische Differenzen.
Die Sozialdemokraten und die Liberalen strebten ein einheitliches und gestuftes Schulsystem an, das vom Einfluss der Kirchen befreit und allein der staatlichen Aufsicht unterliegen sollte. Die Zentrumspartei unterstützte zwar das Anliegen, die Trennung der Schüler nach Gesellschaftsschichten zu überwinden. Als katholisch geprägte Partei wollte sie jedoch die konfessionelle Separierung der Schülerschaft beibehalten. So sollten Katholiken und Protestanten auf Wunsch der Eltern weiterhin getrennt voneinander in „Bekenntnisschulen« unterrichtet werden. Auch forderte die Zentrumspartei eine geistliche Schulaufsicht und einen verpflichtenden Religionsunterricht. Dies stand den Vorstellungen der beiden anderen Koalitionspartner diametral entgegen.
Die Auseinandersetzungen über das Verhältnis Kirche und Schule mündeten im Sommer 1919 in den „Weimarer Schulkompromiss“. Die Reichsverfassung von 1919 sah als zukünftige Regelschule die konfessionsübergreifende Gemeinschaftsschule vor. Erstmals wurde so für alle Kinder eine gemeinsame „Grundschule« geschaffen. Artikel 149 der Weimarer Reichsverfassung eröffnete die Möglichkeit, auf Antrag der Erziehungsberechtigten Volksschulen ihres Bekenntnisses oder ihrer Weltanschauung – und damit auch weltliche Schulen – einzurichten.
Die weltliche Schule in Nowawes
Dies war der Hintergrund für die Einrichtung der ersten weltlichen Schulen in Berlin und Brandenburg. Eltern, die ihre Kinder vom Religionsunterricht abmeldeten, konnten diese in sogenannte „Sammelklassen“ oder auf „Sammelschulen“ schicken. Bereits 1920 wurde in Berlin-Adlershof eine erste weltliche Schule eröffnet.
Auch in Nowawes, dem heutigen Potsdam-Babelsberg, gab es bereits in der Kaiserzeit eine gewerkschaftlich organisierte Arbeiterschaft, zu der auch Freidenker und eine starke emanzipatorische Strömung der Kirchenaustrittsbewegung gehörten.
Dabei ging es nicht nur und nicht immer um die Ablehnung jeglicher Religion, sondern vor allem um die Brechung der Dominanz der preußischen Staatskirche bei der Alltagsbewältigung des Arbeiterlebens. So wurden Taufen in der stark politisierten Arbeiterschaft während und nach dem Ersten Weltkrieg seltener. Doch für kirchenkritische Eltern gab es in Nowawes bis zur Revolution 1918/1919 keinerlei Schulangebote jenseits der tradierten Volksschule evangelischer Prägung.
Nowawes gehörte bis 1939 zum Landkreis Teltow und somit nicht zur Stadt Potsdam. Die von der Arbeiterschaft geprägte Gemeinde hatte lange eine starke Berlin-Ausrichtung. Man las in den sozialdemokratisch orientierten Arbeiterkreisen eher den Berliner „Vorwärts“ als die „Brandenburgische Zeitung“. So lag es nahe, dass die dortige Schulreformbewegung Anfang der 1920er Jahre auch auf Nowawes ausstrahlte.
Bei den Gemeindewahlen in Nowawes im Februar 1919 errang die USPD 14 Mandate, die SPD zehn und die bürgerlichen Parteien sechs Abgeordnetensitze. Die USPD hatte damit zusammen mit der SPD in der Gemeindevertretung die absolute Mehrheit. Der USPD-Führer Paul Neumann und seine Genossen ergriffen die historische Chance, schneller und radikaler als in anderen Industriestädten der Provinz Brandenburg, in Nowawes eine weltliche Schule einzurichten.
Am 23. April 1922 wurde sie in der Priesterstraße 24 auf Antrag der Gemeindevertretung mit der Stelle eines Rektors und zwei Lehrerinnen gegründet. Für die Gründung der Schule setzte sich vor allem der Lehrer Bruno La Grange (1882–1932) ein, der aus Berlin stammte und seit 1912 in Nowawes unterrichtete.
Bis 1922 waren bereits über 200 Schüler vom Religionsunterricht abgemeldet worden, was etwa 20 Prozent der Gesamtschülerzahl in Nowawes entsprach. Anstelle von Religion konnte an den weltlichen Schulen als freiwilliges Unterrichtsfach „Moralunterricht“ erteilt werden (schon bald Lebenskunde genannt). Ab 1924 wurde dieses Fach auch an der Sammelschule in Nowawes angeboten. Ebenso entwickelte sich an der Schule eine lebendige Jugendweihe-Tradition, deren Träger Gewerkschaften, Arbeitersport- und Kulturvereine, und der Freidenkerverband waren.
Die Tatsache, dass Kinder aus zumeist ärmeren Familien dem bildungspolitischen Zugriff der preußischen Staatskirche entzogen und gar teilweise in gemischten Klassen unterrichtet wurden, rief immer wieder Proteste und entschiedene Gegenwehr bürgerlicher Kreise hervor. Aber auch in Teilen der Arbeiterschaft gab es Unverständnis und teilweise Ablehnung gegenüber der Schule. Das 1907 errichtete Schulgebäude, in dem sich die weltliche Schule befand, war vergleichsweise modern. Doch der Standort der Schule in Nowawes lag nördlich der Eisenbahnlinie, wo mehrheitlich arme Proletarier und Arbeitslose wohnten. Es mangelte der Schule, wie Bruno La Grange später einmal feststellte, an Schülern, die eher aus den Mittelklasse-Haushalten kamen. Und es wurden Schüler aufgenommen, die auf anderen Schulen gescheitert waren, was später kritisch bilanziert wurde.
Auch die zunehmenden Auseinandersetzungen zwischen SPD und KPD Anfang der 1930er Jahre, waren für die Schule nicht förderlich. Konträre Standpunkte stießen unerbittlich aufeinander. Für die einen war die Sammelschule der Einstieg in eine Bildungsreform in Preußen, für die anderen eine unzumutbare Insel-Lösung. Ausgelöst aus Dissonanzen in der nicht durchgängig „weltlichen“ Lehrerschaft der Schule, wurde eine politische Schlacht zwischen den Arbeiter-Parteien geschlagen, die es den Konservativen im Provinzial-Landtag ermöglichte, vom „marxistischen Schulskandal in Nowawes“ zu sprechen.
Dennoch war die weltliche Schule in Nowawes zu dieser Zeit das bildungspolitische Projekt der Arbeiterparteien und ihrer Vorfeld-Organisationen. Ob Gewerkschaften, AWO, ASB, Arbeitersportvereine, Arbeiterchöre, Kinderfreunde, aber auch die Rote Hilfe; von vielen Seiten erfuhren die Schule und ihre Schüler immer wieder Unterstützung. Der Schulalltag war geprägt von neuen reformpädagogischen Ansätzen dieser Zeit; und auch im Freizeitbereich wurde versucht, eine starke naturbezogene und musische Entwicklung der Schüler zu fördern.
1927 fasste der Parteitag der SPD einen Beschluss über die Notwendigkeit der Einrichtung weltlicher Schulen in der Provinz Brandenburg. Danach kam es zur Gründung weiterer Schulen, vor allem in industriellen Ballungszentren: 1927 und 1929 in der Stadt Brandenburg (Havel), 1927 in Frankfurt/Oder, 1928 in Wittenberge und Luckenwalde sowie 1928/29 in Finsterwalde.
Mit der Machtübernahme der Nazis ging die Geschichte der weltlichen Schule und ihrer Lehrer und Schüler abrupt zu Ende. Schon am 25. Februar 1933 wurde per Erlass für Preußen die Auflösung der weltlichen Schulen und das Verbot des Lebenskunde-Unterrichts verfügt.
Der Inspirator und Mitgestalter der weltlichen Schule Nowawes, Bruno La Grange, erlebte ihren Untergang nicht mehr. Er starb 1932. Andere Lehrer wurden aus politischen Gründen entlassen oder an andere Schulen strafversetzt.
In Potsdam und Potsdam-Mittelmark wird seit 2007 durch den Humanistischen Verband Berlin-Brandenburg an Schulen das freiwillige Fach Lebenskundeunterricht angeboten. Derzeit nehmen an fünf Grundschulen 332 Kinder daran teil.
Quellen:
Bundeszentrale Politische Bildung
Schulgeschichte bis 1945: Von Preußen bis zum Dritten Reich.
www.bpb.de/themen/bildung/dossier-bildung/229629/schulgeschichte-bis-1945-von-preussen-bis-zum-dritten-reich/
Uwe Klett
100 Jahre Weltliche Schule Nowawes
(unveröffentlicht)
Eckhard Müller
Weltliche Schulen in den 20er Jahren im Gebiet des heutigen Landes Brandenburg
Vortrag auf der Tagung: Demokratiepädagogik damals und heute – 100 Jahre weltliche Schule.
Humanistische Akademie Berlin-Brandenburg, August-Bebel-Institut
28./29. Mai 2021